Kind, wir müssen uns mal unterhalten
Von wissenschaftlicher Seite betrachtet, soll die sexuelle Aufklärung dazu dienen, Heranwachsende auf ihre Geschlechterrolle im Erwachsenenleben vorzubereiten und sie mit zwischenmenschlichen Normen des entsprechenden Kulturkreises vertraut zu machen. Noch bis zur sogenannten sexuellen Revolution in der 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war das Ganze ein großes Tabuthema und so konnte meine Mama im zarten Alter von 12 Jahren wochenlang nicht schlafen, weil sie dachte, sie wäre von einem Kuss schwanger geworden. Zum Glück ist das heute meist nicht mehr so, aber im gleichen Maße wie Erwachsenwerden schwierig ist, sind Aufklärungsmomente peinlich. Eine persönliche Betrachtung…
Sophia:
Ich habe das Glück, mit recht freigeistigen Pädagogen-Eltern gesegnet zu sein und so wurde ich sehr früh über die grundlegenden Fortpflanzungsmechanismen aufgeklärt. Nämlich als ich das erste Mal nachfragte, wo denn die Kinder herkommen – da war ich vier. Mutig erklärte mir meine Mutter, was wo reinzustecken wäre und weil ich schon immer sehr neugierig war, hatte ich nichts besseres zu tun, als zu meinem Kindergartenfreund Thomas D. zu laufen und ihn zu zwingen, das gleich mal auszuprobieren. Wir machten uns nackig und turnten aufeinander herum, aber natürlich funktionierte es nicht und plötzlich kam seine Mutter zur Tür herein und flippte total aus. Sie war wohl nicht ganz so entspannt wie meine…
Nun hatte ich also das Basiswissen, aber es sollte noch lange dauern, bis ich verstand, dass jener Vorgang nicht nur zur Fortpflanzung gedacht war. Als Ende der 80er Jahre das traurige Kapitel Aids immer mehr ins allgemeine Bewusstsein rückte, gab es im Fernsehen die ersten Präventions-Spots und eines Tages fragte ich meine allwissende Mutter: „Ich versteh das nicht. Wenn das so gefährlich ist, wieso machen die Menschen das dann? Wieso schlafen sie miteinander?“.
„Also weißt du, das macht schon auch Spaß…“ antwortete sie leicht verschämt.
Ich fing an zu ahnen, dass das Thema irgendwann stärker in den Vordergrund rücken würde.
Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur meiner Aufklärung leistete die EAV (Erste Allgemeine Verunsicherung). Ich war großer Fan und da sie über „die Pille“ (Küss die Hand) und „das Kondom“ (Liebe, Tod & Teufel) sangen, ließ ich mir auch das gleich elterlich erklären. Wieder was dazu gelernt.
Den Feinschliff in puncto Sexualwissen muss ich aber doch der „Bravo“ und ähnlichen Medien zusprechen. Wir waren wahrscheinlich die letzte Generation die (statt YouPorn) Doktor-Sommer-Team, Schulmädchen-Report sowie Tutti Frutti (die Leser, die das noch kennen kriegen von mir ein Eis am Stiel!) zur Weiterbildung nutzten.
Im Alter von 16 war ich soweit aufgeklärt, dass ich wusste was Cunnilingus ist, wie man einen Cock Ring benutzt und dass es auch eine weibliche Ejakulation gibt, sagen wir, ich hatte mich eingearbeitet. Und just zu diesem Zeitpunkt holte meine Mutter dann das nach, was gar nicht zu ihr passte: Sie zwang mich zu einem peinlichen Gespräch über Verhütung. Wir setzten uns auf die Couch und sie druckste herum, nach dem Motto: „Ich will nur, dass du vorsichtig bist und so…“
Siebenschlau und genervt sagte ich: „Mama, ich nehm seit einem halben Jahr die Pille, also mach dir keine Sorgen…“
Benny:
Mit fünf Jahren war ich für etwa einen halben Tag der King im katholischen Privatkindergarten. Zufällig hatte ich beim Spielen am Vortag ein Sexheftchen in Nachbars Mülltonne gefunden. Fasziniert und unaufgeklärt – jedoch wissend, dass ich da soeben etwas ganz Geheimes, das gar nicht für meine unschuldigen Kinderaugen bestimmt sein sollte, entdeckt hatte – verstaute ich meinen neuen Schatz ganz unten in meinem Rucksack, um ihn tags darauf voller Stolz die Runde machen zu lassen. Ganz aufgeregt bestaunten zig Kinderaugenpaare Fotos von kopulierenden schweißglänzenden Damen und Herren. Unsere Freude wurde jedoch jäh getrübt, als Oberschwester Antonia unser Geheimversteck in der Puppenecke aufspürte und uns wutentbrannt die Wurzel allen Übels namens Pornoheft aus den klebrigen Kleinkinderhänden riss. An die direkten Folgen dieses Ereignisses erinnere ich mich nicht mehr genau, nur dass es das typische Eltern-Kind Gespräch von wegen „Wenn sich zwei Erwachsene ganz doll lieb haben…“ gegeben hat.
Danach war das Thema Aufklärung für lange Zeit gegessen. Bis zu jenem schicksalsträchtigen Tag: Beginn der Osterferien, ich war knapp 14 Jahre alt, geschlechtsreif und aufgeklärt (hier erzähle ich nichts weltbewegend Neues: was man in der Schule nicht gelernt hatte, wurde einem spätestens durch die BRAVO und Dr. Sommer erklärt), hatte seit geraumer Zeit meinen ersten Freund (von dem meine Eltern – so dachte ich – nichts wussten) und natürlich auch regelmäßigen Verkehr mit ebendiesem. Wir – meine Mutter, mein Vater und ich – saßen also im Auto in Richtung Oma und Opa. Fast sechs Stunden Reisezeit Richtung Budapest, eingepfercht in eine rollende Metallkiste, kein Entkommen. Nach etwa 20 Minuten Fahrt auf einmal die Frage meiner Mutter: „Benny, hast du eigentlich schon Sex mit deinem Freund?“ Überrumpelt von der Tatsache, dass meine Mutter
a) wusste, dass ich einen Freund hatte und daraus schlußzufolgern hatte, dass ich nicht an Mädchen interessiert war und
b) das Wort Sex nicht nur (für meinen Geschmack) zu laut aussprach sondern auch höchst sonderbar betonte (es klang eher nach „Säääx!“)
wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Allerdings wurde auch keine Reaktion erwartet. Meine Eltern begannen mit einem Vortrag über „Säääx!“, Analverkehr (inklusive Darmspülungen für die richtige Hygiene beim schwulen Verkehr), Verhütung, HIV und AIDS, sowie Tipps zum besten Entfernen von Spermaflecken auf dunklen Stoffen und schmückten das Ganze mit mehr als intimen Details aus ihrem eigenen – sehr aktiven und abwechslungsreichen – Sexuallebens aus. Das war für meine erste Beziehung dann doch ein wenig zu viel der Aufklärung, ich beendete sie traumatisiert – per SMS. David, wenn du das hier liest, weißt du es endlich: Meine Eltern waren schuld!