Fr, 11. Dez 2009

REVIEW Paul McCartney: 'Alles dufte, Berlin?'

VOLUME-Beatlemaniac C. Löger war in Berlin und hatte nach 32 Jahren Warterei endlich seinen ersten Beatles-Moment. Ein ausgedehnter Befindlichkeitsbericht zwischen haltlosen Tränen und der Tatsache, dass auch Paul McCartney nur ein Mensch ist. Beatles, Live And Let Die, Let It Be, Gänsehaut, Paperback Writer, Köpenick-Straße, all in one. Verrry long story, I’m afraid, darlings.

von Christoph Löger

Anflug Tegel ex VIE. Eiskristalle am Fenster, 7 Uhr früh. Schwarz zu Blau. Der Co-Pilot fliegt heute, setzt den A320 ziemlich heftig hin. TXL-Bus. Berlin ist an diesem Donnerstagmorgen grau, saukalt und es nieselt. Das grundgütig herrliche Frl. P und der Autor stehen bibbernd vorm Brandenburger Tor. Spaziergang runter zum Potsdamer Platz. Frühstück bei Dunkin’ Donuts. Boston Creme, Cappucino, regular. Berlin, du kannst so hässlich sein.

 

Ich kenn mich überhaupt nicht aus, nehme im Prinzip nichts rund um mich wahr, so gern ich auch möchte. Brandenburger Tor, Mauerreste, Berlin-Mojo? Gilt heute alles nicht. So sehr ich diese Stadt auch liebe. Ich spüre nur beißende Kälte und verständnisvolle Berührungen von Seiten Frl. P., die mich zu beruhigen versucht. Ich hab das erste Mal vor einem Konzert ehrliche Angst, mir beim Spazierengehen weh zu tun, vielleicht umzuknöcheln oder spontan grippal und fiebrig zu werden. Alles Blödsinn, denk ich, Akut-Fieber gibt’s nicht, während ich neben Frl. P. unter den Linden dahinstapfe.

 

Warum das alles? Weil sich alles in meinem Hirn darum dreht, später am Abend meine erste Beatles-Live-Begegnung zu haben. Ein Moment, von dem ich in meinen kühnsten Träumen nie dachte, dass er irgendwann mal passiert. Man kann sich das so vorstellen: Meine komplette Kindheit, meine Jugend, mein komplettes Musikjournalisten- und DJ-Leben im Erwachsenendasein ist irgendwie verquer rund um die Beatles aufgebaut. Wie das Fundament der Gizeh-Pyramiden. Da hatten nicht einmal KISS oder Bowie was mitzureden. Ich werd jetzt nicht alle Verästelungen dieser innigen Liebe beschreiben, das ginge viel zu weit und würde Bibliotheken füllen, aber jeder, ich wiederhole: jeder, bei dem es in Sachen „Beatles“ irgendwann im Hirn geschnalzt hat, wird’s verstehen. Ich hab dieser Band meine Diplomarbeit gewidmet, ein Lied dieser Band wird später irgendwann auch mein Begräbnis begleiten. Lange Rede, kurzer Sinn: Es war soweit.

 

Berlin, Mitte. Fernseher im Hotelzimmer. Frl. P. und der Autor sind frisch geduscht, ready and prepared for Sir Paul McCartney. In den ARD-Abendnachrichten flimmert eine desaströse Meldung über den Schirm. Ach, verdammte Kacke, hätt ich doch nicht den Fernseher aufgedreht. ARD sagt: Der deutsche Hamburg-Tourstart am Vortag war offenbar nicht so toll. Was tut der Journalist in solchen Fällen? Er will wissen, was los war, auf die Gefahr, dass er sich selber alles kaputt macht. Also:

 

Hamburg, tags zuvor: Für McCartney kommt die Begrüßung des Publikums zum Auftakt der Deutschland-Tour wohl ein bissl überraschend. Pfeifkonzert, Buhrufe, der Mann steht verdattert vor einer verärgerten Menge. Der Grund: Sir Paul betritt die Bühne mit fast eineinhalb Stunden Verspätung. Wer die Hintergründe kennt, kann den Ärger der ausverkauften 15.000er-Halle (in der jeder im Schnitt gut 100 Euro für die Karte hingelegt  hat) vielleicht sogar nachvollziehen: McCartney hat sich nix geschissen, war schlicht noch bei einer Schulveranstaltung seiner sechsjährigen Tochter in England, die er nicht versäumen wollte und bestieg erst danach seinen Privatjet gen Hamburg. Herzig zwar für das Töchterchen, aber ein etwas unfreundliches „Hallo“ just für jene Stadt, ohne die aus den Beatles wohl nicht das geworden wäre, was auch noch in tausend Jahren in allen Geschichtsbüchern stehen wird. Axl Rose’sche Verspätungsallüren hätte man ihm jedenfalls nicht zugetraut. Wir sind ja schließlich nicht bei der Gallagher’schen Beatles-Coverband .

 

3. Dezember, O2-Arena, Berlin, 20 Uhr. Die ARD-News von vorhin sind längst vergessen. Dreißig Minuten Verspätung diesmal, dem Berliner Publikum ist das aber sowas von wurscht. Publikumsbegrüßung mit minutenlang Standing Ovations, gleich zum Opener „Magical Mistery Tour“ haben die Ordner vor der Bühne mächtig zu tun, weil die ersten Reihen im (blöderweise bestuhlten) Hauptraum aufspringen und nach vorne strömen. In der ersten Reihe sitzt ein Pärchen. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht in großen roten Lettern „PA“, auf ihrem „UL“. Sieht nebeneinander gut aus.

 

Paul übrigens auch für seine 67 Lenze: Das Haupthaar zwar seit ein paar Jahren gefärbt, dafür in klassischer schwarzer Beatles-Panier mit weißem Hemd plus Hosenträger, hautengen Hosen und – eh klar – Beatles-Boots inklusive derart hohen Absätzen, dass Mariah Carey damit stolpern würde. Seine Stimme ist die erste Überraschung der Nacht: Komplett klar wie vor fünfzig Jahren, das wird sich für die nächsten 35 (!) Lieder oder drei Stunden auch nicht mehr ändern.

 

Sympathisch, wenn auch wohl ungesund: McCartney’s Grundgesetz, während eines Konzerts nicht einen einzigen Schluck Wasser zu trinken. Seine Begründung dafür: Derartige Unterbrechungen würden den Konzertfluss stören und das Publikum ärgern. Löblich und äußerst britisch zwar, aaaaber, hüstel, vielleicht das nächste Mal besser ein Flascherl Mineral auf die Bühne stellen und dafür pünktlich sein, Sir. No offence.

 

Unüblich für jemanden seines Kalibers: Er plappert zwischen den Liedern wie aufgezogen, vieles davon ist Deutsch (und wird brav von einem Zetterl, das am Bühnenboden klebt, abgelesen). Vor allem ein Wort hat es ihm angetan. Ein Wort, das in Deutschland heute kein vernünftiger Mensch unter 40 mehr verwendet, zur Beatles-Hamburg-Zeit, als sich er und Lennon am Klo vom „Kaiserkeller“ nach zehnstündigen Nonstop-Gigs angespieben haben, aber wahrscheinlich ziemlich hip war: „Dufte“. Demnach ist alles, was es in der Berliner O2-Arena an diesem Tag zu kommentieren gibt, für Paul einfach „dufte“. Und zwar geschätzte 97mal. Was optisch gar nicht geht, aber seit Beginn der Beatles halt so ist: Paul McCartney ist unfähig, sich zu bewegen. Komplett. Ich mag das aber: Einerseits bringt dieser Mann über ein halbes Jahrhundert Tonfolgen, Harmonien und musikalische Kunstwerke zustande, für die er nicht umsonst mit Mozart verglichen wird, andererseits stapft er völlig vom eigenen Takt befreit auf der Bühne herum wie Godzilla. Er spielt tatsächlich „Day Tripper“ am Höfner-Bass, macht dazu aber falsche Schritte und ungelenke Bewegungen. Hübsch dafür sein ewiges Markenzeichen, das zwölftausend Bands später übernommen haben: Die Gitarre am Hals nach oben halten, so hoch wie irgend möglich.

 

Abgesehen vom „Magical Mistery Tour/Drive My Car“-Intro spielt sich Macca in der ersten Hälfte hauptsächlich durch ein Solo- und „Wings“-Set. Vor allem „Jet“ und „Highway“, letztere eine Nummer vom vorjährigen „Fireman“-Projekt, kommen saugut, trotzdem spürt man im Publikum, dass im Prinzip alle auf die Beatles-Nummern warten. Schade irgendwie, weil Wings-Nummern wie „Band On The Run“ oder das herrliche (und ständig unterschätzte) Singalong-Monster „Mrs. Vanderbilt“ noch nie voluminöser und besser klangen. An dieser Stelle muss man auch eine Lanze für McCartney’s Live-Band brechen: Natürlich steht man neben ihm im Schatten, das ist sogar eine veritable Sonnenfinsternis, die die drei Jungs an seiner Seite jede Nacht heimsucht: Mit Rusty Anderson und Brian Ray an den Gitarren sowie der heftig fülligen Urgewalt Abe Laborial Jr. hat McCartney Musiker um sich geschart, die jeder für sich mehr drauf haben als alle aktuellen Indiebands zusammen. Anderson und Ray ersetzen, abgesehen vom höchst virtuosen Fingergezwirble, mit ihrer erschreckend guten Stimm-Range problemlos im Vorbeigehen jeden schwarzen Mädl-Backgroundchor. Und das 150-Kilo-Bröckerl Abe Laborial bumst derart deppert in die Felle, dass der Magen zeitweise rebelliert. Saugut eingespielte Konstellation auf jeden Fall, auch wenn ich mir nicht vorstellen mag, was sich jeder von denen denkt, wenn er in diesen speziellen, magischen  Bühnenmomenten rüberschaut und da dann der Paul McCartney steht. Ich geh davon aus, dass die insgeheim auch manchmal weinen vor Freude. Deswegen ist es auch eine Frechheit, dass der Chef himself bei der Vorstellungsrunde fürs Publikum zwar den Tontechniker namentlich beklatschen lässt, die Buben auf der Bühne aber anonyme Sidekicks bleiben müssen. Das ist wirklich schade. So richtig schade. Sogar frech.

 

Für einen fetten Hallen-Lacher sorgt zwischendurch ein übermotivierter Hardcore-Fan, der von ganz vorn seit Beginn des Konzerts alle (!!!) McCartney-Ansagen im Wortlaut (!!!) schon vorher auswendig weiß und sich nicht zu blöd ist, ihm diese ganz kurz vorher schreiend mitzuteilen. Paul hat ihn offensichtlich schon seit ein paar Nummern im Visier, deutet auf ihn, und irgendwann reicht’s ihm: „I’m not having a conversation with you. I’ve got people to entertain.“ So kommt man also auch zu seinem persönlichen Beatles-Moment, nice.

 

Zum ersten Mal geheult hab ich bei „Blackbird“, zirka zur Hälfte des Konzerts, kurz vor Beginn der großen Beatles-Jukebox-Phase. Das war jener Moment, als alle Erwartungen, Hoffnungen, Vorstellungen, die ich in den letzten 32 Jahren (ich hab schon in Mama’s Bauch ein paar Beatles-Nummern auswendig gekannt, you know?) aufgestaut hab, zusammenkamen. Ich hab’s zwar erst nicht verstanden, weil ich „Blackbird“ bis dato nicht wirklich mochte, aber da ist der Funke auf einmal übergesprungen. Da war ich nicht mehr auf einem Konzert mit 17.000 anderen, sondern mit Paul allein im Proberaum. Noch geiler deshalb, weil er sich beim Akustik-Solo komplett vergriffen hat und das Ganze grinsend mit „Whoopsie“ kommentierte. McCartney nicht als Übergott, sondern als fehlbarer Musiker. Unvergleichlich.

 

Und dann begann irgendwann der Wahnsinn, den ich zeitlich und geistig nimmer reihen kann: Zuerst erzählte er von einem Hendrix-Konzert, zu dem er und „sein Freund“ Eric Clapton gingen. „Sgt. Pepper“ ist damals gerade rausgekommen und Hendrix meinte zu Paul, dass das Album super ist. Jedenfalls stand Hendrix auf der Bühne, penetrierte die Saiten wie immer und meinte irgendwann zu Paul und Clapton, die vorn im Publikum standen: „Irgendwer sollte meine Gitarre nachstimmen. Eric, kannst du kurz raufkommen? Du kannst das ganz gut, oder?“. Paul’s Erzählung nach hat Clapton vor Scham seinen Kopf unter seine Achsel gesteckt und sich hinter McCartney versteckt. Das muss man sich bitte einmal bildlich vorstellen: Hendrix schäkert von oben mit den aufstrebenden Talenten McCartney und Clapton. Sorry, das übersteigt meine Vorstellungskraft um ein Vielfaches.

 

Back in Berlin: Paul nimmt eine Ukulele zur Hand. Natürlich keine aus dem Instrumenten-Tandler ums Eck, sondern eine aus George Harrison’s Vermächtnis. Spielt damit Harrison’s „Something“, während auf den massiven Screens dahinter Fotos von George & Paul als Slideshow laufen. Wieder ein Schluckmoment, Tränen, ich weiß nicht, warum. Die kommen einfach so daher.

 

John Lennon wurde auch bedacht. Vielleicht aber in einer Art und Weise, die ich nicht so mag. Wer die Beatles-Geschichte kennt, weiß vielleicht, dass das beste Songwriter-Duo aller Zeiten miteinander gar nicht so gut konnte wie man durch die langfristige Verklärung der Geschichte fälschlich annehmen könnte. Als dezidierter Lennonist möchte ich diesen Teil des Konzerts deshalb nicht groß kommentieren, bloß soviel: Hätte John gewusst, dass Paul irgendwann einmal „Give Peace A Chance“ als Alle-singen-mit-Outro-Anhängsel von „A Day In The Life“ verwenden würde, noch dazu nur auf den Refrain beschränkt, also ohne die wirklich wichtigen Worte, dann hätte er ihm ung’schaut dermaßen eine geprackt, dass ihm die süßen Pausbäckchen lustig gewackelt hätten. Obwohl das Lied erst nach dem Beatles-Split entstanden ist, hat Lennon in seiner zeitweiligen Gutmütigkeit (und in einem dummen Anflug von Gewohnheit) McCartney als Co-Writer angegeben. Der hatte mit „Give Peace A Chance“ allerdings nix mehr zu tun.

 

Zwischenexkurs in des Autors Kinderjahre: „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ war für mich schon ein furchtbares Lied, als ich noch nicht einmal vernünftig das Einmaleins konnte. Mein Vater hat es leider geliebt und mich in einer Zeit damit zugemüllt, in der ich noch nicht legal allein aus dem Haus konnte. Gefangen in der Obladioblada-Hölle, quasi. Kein Entkommen, keine Flucht. Und was tut McCartney in Berlin als „special surprise“? Er spielt’s, der Wahnsinnige. Und verdammtnochmal – live rockt diese ursprünglich als Kinderlied konzipierte Nervtötung derart genial, dass ich bekehrt wurde. Exkursende.

 

Und dann ging’s dahin: Back In The USSR (grad in Berlin interessant), I’ve Got A Feeling, Paperback Writer, Let It Be, Live And Let Die (mit Herzschrittmacher-strapazierendem Pyro-Bummzack in KISS-Manier), Hey Jude (sensationell! 17.000 singen Naa-naa-naa-nananana…), dann das unglaublich dichte Rock-Triumvirat Day Tripper, Lady Madonna und Get Back.

 

Yesterday war gar nicht so gut. In das meistgecoverte Lied aller Zeiten legt man im Vorhinein wohl unbewusst soviel Erwartungen, dass McCartney trotz highest possible performance sich selber nicht gerecht werden kann. Das ist aber ein Luxusproblem des Paul McCartney, das sich jeder Musiker wünscht. Bei Yesterday kann er sich nimmer übertreffen, er kann sich nur mehr selbst interpretieren. Wär interessant zu wissen, ob er’s selber noch mag. Oder Distanz dazu gefunden hat.

 

Das unerwartete Highlight kam fast zum Schluss: Rusty Anderson reißt das „Helter Skelter“-Riff an, und auf einmal ändert sich McCartney’s Gesicht. Der liebe Grinser ist weg. Keine über Dekaden einstudierten Posen mehr, Paul ist im Metal-Modus. Jenes Lied, dass quasi im Vorbeigehen den modernen Metal erfand, auf das sich jede vernünftige Rockband beruft, jenes Lied, das eine späte Antwort auf John Lennon’s Stimm-Performance in „Twist And Shout“ war, weil McCartney immer der „Sanfte“ war.

 

Paul McCartney weiß seit dem 8. Dezember 1980, dass ihm seine musikalische Lebenshälfte weggefallen ist. John Lennon hat ihm am 3. Dezember 2009 von oben applaudiert.