Alternative Realitäten
Innenleben #60
Ich glaube, jeder, der schon einmal für längere Zeit Single war, hat diesen einen Menschen in seiner Vergangenheit, zu dem er gedanklich immer wieder zurückkehrt. Sei es die erste große Liebe, eine heimliche Schwärmerei oder eben diese eine Beziehung, deren Ende nicht nur eine Furche hinterlässt, sondern alles hinter sich zum Einsturz bringt und die unseren Gedanken einen leichten Drall versetzt … immer zu der Frage zurück: „Was wäre gewesen wenn …?“
Philipp! Manchmal bleibt die Zeit stehen. Nicht auf diese angenehme, Pop-Rockunterlegte Art, sondern TATSÄCHLICH, da jede Blutbahn im Körper versteinert, der Unterkiefer praktisch am Boden liegt und ein Name im Dubstep-Dauerloop im Kopf dröhnt. Philipp! Zwei Jahre absolute Funkstille und nun stehen wir plötzlich hier und reden. Ich glaube zumindest, dass ich das tue? Doch ja, meine Lippen bewegen sich. Nach außen alles im grünen Bereich, während innerlich nach der ersten Schockstarre nun das Chaos ausbricht. Ich höre Philipps Worte nicht, da ist kein Platz in mir für neue Informationen. Viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, zu begreifen, WER da gerade vor mir steht, was das nun für mich bedeutet und wie ich wohl damit umgehen werde. Pre-Post-Analysemassaker im Live-Ticker sozusagen. Philipp! Philipp ist dieser EINE Exfreund, den ich mental auf ein Podest gestellt habe (es wäre übertrieben zu sagen, dass es ein Schrein ist – nein, Schrein ist es keiner … ), mit dem ich jeden vergleiche, an dem ich meine Maßstäbe und Ansprüche orientiere, der in meinem betrunkenen Sprachschatz immer wieder auftaucht und dem ich so oft schreiben möchte, aber nicht kann, da ich seine Nummer schon lange gelöscht habe.
Aber nur weil ich noch an Philipp denke und von ihm rede, heißt das noch lange nicht, dass ich mir eine neue Beziehung mit ihm wünschen würde. Denn manchmal ist man nicht in die Person verliebt, sondern in die Vorstellung. Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass Philipp ein reines Gedankenkonstrukt ist, das schon lange nichts mehr mit ihm zu tun hat. Es ist nur dieses GEFÜHL von damals, dem ich nachhänge. Diese absolute Zuneigung und Hingabe. Diese Berührungen, die noch so verdammt spürbar sind. Ja, Philipp erscheint mir auch jetzt gerade sehr vertraut – aber es sind Nuancen. Dieses Lächeln, das sein ganzes Gesicht erstrahlen lässt. Augen, in denen ich mich verliere, da sie in dem Moment, wenn sie dich anschauen, nur dich sehen und voll und ganz bei dir sind. Seine Bewegungen, die immer einen Hauch von Tanz in sich tragen.
Da ich wohl gerade nicht die vor Esprit sprühende Gesprächspartnerin bin, schlägt Philipp vor, dass wir uns zu den anderen setzen. Kann ich verstehen. In der Runde werden wir räumlich voneinander getrennt und zum ersten Mal sehe ich wieder diesen Chaoten, der in seinem praktizierenden Nihilismus jedem Rock hinterherlechzt und ich frage mich, ob er diesen Platz auf meinem inneren Schrein überhaupt verdient hat – okay ja, dann nennen wir es halt doch einen Schrein. Wann und warum habe ich eigentlich angefangen, in der Rolle der tragischen Heldin so aufzugehen? Gäbe es nicht leichtere Lebensentwürfe, die weniger aufwühlend sind? Andere schaffen es doch auch, sich ohne diesen ganzen pathetischen Mist nach einem Ende neu zu kalibrieren, damit sich die Gedanken nicht im Kreis drehen. So gesehen bräuchte man einfach öfters mal einen neuen Kompass. – „Tina, magst du auch noch was trinken? Spritzer?“ – „Tequila. Zwei bitte.“