Sensationell

Hitchhiker's Guide To Europe #75

Wir näherten uns langsam unserem Ziel. Das Meer wartete auf mich. Ich war erleichtert, dass wegen meinen Verdauungsproblemen keine Zwischenstopps eingelegt werden mussten

Nachdem wir nun länger geschwiegen und sinniert hatten, wollte Ilka wissen, wo sie mich denn absetzten könne. Ich meinte ganz ungeniert, dass irgendwo in der Nähe des Zentrums ganz okay wäre. „Or near a toilett“, fügte ich scherzend, etwas bitter hinzu. „Why is that?“, wollte sie darauf hin wissen. Ich erzählte ihr von meinem Zustand und dass es nicht gerade einfach sei. Sie war überzeugt, dass es wohl vom Alkohol käme. Dem musste ich widersprechen. Das hier war was anderes.

Reiß dich zusammen, Mann!

Hinter einem etwas dürr bewaldeten Hügel tauchten die erste Dächer Pirans auf. Ein paar Augenblicke später, Ilka war soeben in die Autobahnabfahrt nach Piran abgebogen, sah ich doch tatsächlich das Meer in nicht mehr allzu großer Entfernung verheißungsvoll, wie ein Hoffnungsschimmer am Horizont funkeln. „Sensationell!“, murmelt ich ganz abwesend vor mich hin. Ilka lachte. Es war tatsächlich so schön, wie ich es in Erinnerung hatte. Als ob hier gerade eine kitschige, nicht näher zu bestimmende Prophezeiung für mich in Erfüllung ginge. Meine Seele tanzte Cha-Cha-Cha oder etwas ähnliches. Ich spürte die Euphorie in mir hochsteigen und musste mich zusammenreißen, dass ich hier vor lauter Glück am Beifahrersitz neben Ilka nicht in Tränen ausbrach. Bei allem was gut und Recht ist, es war nur das Meer, nicht meine Heilung. „Reiß dich zusammen, Mann!“, hörte ich mich sagen. Ilka lachte wieder. Ich lehnte mich über die Mittelkonsole zu ihr rüber und drückte ihr ein Bussi auf ihre wunderbar weiche Wange. „Thank‘s for the lift!“, sagte ich mit feuchten Augen. Es war einfach nicht die Zeit und schon gar nicht der Ort, um sich zusammen zu reißen. Wirklich nicht!

Grundgütiger war ich peinlich. Ihre seidene Wange wurde ganz rosa und sie lachte verzückt. „You idiot, you are welcome!“ Nun musste auch ich lachen. Ein paar Minuten später erreichten wir den höchsten Punkt einer Anhöhe, von wo aus man die Stadt und ihren Hafen gut sehen konnte. Ein paar Häuser standen links und rechts der Straße auf diesem Hügel mit Panoramablick. „The little house on the left“, sagte sie, als es schon wieder leicht bergab durch einen Wald ging, „this is where i am living. You can visit me any time. Over there is the busstation, you will find it.“ Sie gab mir ihre Telefonnummer. Wie fuhren hinab ins Zentrum der Stadt, wo sie mich an einer Bushaltestelle direkt am Ufer der Bucht von Piran absetzte. „And this is where you get the bus to my place.“ Ich bedankte mich many, many times und versprach ihr, mich bei ihr zu melden, sobald ich mich hier ein bisschen umgesehen hatte. Vielleicht schon morgen.

„See you!“, und schon war sie weg. Ich sah ihre Augen im Rückspiegel und winkte ihr nochmal zum Abschied, bevor ich mich umdrehte und dort, hinter eine Steinmauer, direkt vor mir das Meer sehen, riechen und hören konnte. Sensationell. Ich wollte mich noch einmal bei jemandem bedanken. Aber da war nur das Meer, ich und diese Bushaltestelle. Ich würde das später, vielleicht schon morgen, nachholen. Die Bushaltestelle brillierte mit einer rostigen Tafel, auf der einmal so etwas wie in Autobus zu erkennen war und einer erstorbenen Holzbank. Dahinter das Rauschen der Wellen: Busstop-Poetry. Sensationell.

RETO ALLEMANN WAR AUF DER REISE SEINES LEBENS. WIE EINE FLASCHENPOST LIESS ER SICH ALS ANHALTER VOM ZENTRUM EUROPAS AN DESSEN RÄNDER UND ZURÜCKTREIBEN, LERNTE ZWISCHEN STONEHENGE UND HAGIA SOPHIA SICH SELBST UND ANDERE KENNEN UND VERÖFFENTLICHT JETZT IM VOLUME SEIN REISETAGEBUCH.

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