Kritisches Wissen
Stephan Schulmeister im Interview
Daher laden wir jetzt Experten ein, sich für uns den Kopf zu zerbrechen und uns ihr kritisches Wissen inklusive Lösungskonzepten mitzuteilen. Ohne Anspruch darauf absolute Wahrheiten zu predigen, finden wir, dass ein differenzierter Blick auf die Welt niemandem schadet. Denn Öffentliche Diskussion, Kritik, Kontrolle und Gestaltung sind unabdingbar, wenn wir uns die Geschehnisse der letzten Zeit in Erinnerung reihern. Den Anfang unserer Interviewserie macht Stephan Schulmeister.
Laut ihrem Buch befinden wir uns „Mitten in der großen Krise“…
Wir befinden uns in einem Prozess der Schrittweisen Implosion des Finanzkapitalismus.
Klingt ungemütlich. How comes?
Verkürzt gesagt durch eine Verschiebung der Spielanordnung, weg von realkapitalistischen hin zu finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen innerhalb der letzten Jahrzehnte.
Ja?
Der Finanzkapitalismus hat sich seit Anfang der 1970er Jahre immer weiter ausgebreitet, er ist dadurch charakterisiert, dass sich das Gewinnstreben zunehmend von realwirtschaftlichen Aktivitäten zu Finanzveranlagung und –spekulation verlagert. Im Gegensatz zum Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre.
Wo ist das Problem?
Es wird nur Geld umverteilt. Es werden keine realen Werte geschaffen. Im Gegenteil.
Und was passiert jetzt?
Die schwierigste Phase liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Denn die Probleme wurden nur verschoben und das finanzielle Pulver verschossen. Ein neuerlicher Rückgang der Aktienkurse bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen und zunehmendem Zweifel an der realen Deckung von Krediten wird dazu führen, dass alle versuchen, ihre Lage durch Sparen abzusichern: Haushalte, Staaten, Unternehmer. Das ist der Stoff, aus dem ökonomische Depressionen gemacht sind.
Was ratet der Experte?
Die Einkommensstärksten, insbesondere die Besitzer großer Finanzvermögen, müssen spürbare Konsolidierungsbeträge für den Staatshaushalt leisten. Nicht
aus sozialen, sondern aus makroökonomischen Gründen. Die Reichen reagieren darauf nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums. Die Wirtschaft wird nicht gebremst. Ein eher schwieriges Unterfangen.
Nein, ganz und gar nicht. Es liegt viel mehr in ihrem Interesse, denn wenn
wir der Krise nicht entgegensteuern, werden ihre Verluste weitaus höher
sein. Für die Reichen an Geld ist das noch wichtiger als für die Reichen
an Realkapital, da erstere den größten Teil an Aktien/Staatsanleihen
halten.
Und warum passiert nichts?
Der erste Schock durch die Krise ist vorbei. Schon setzten alte Verhaltensmuster
wieder ein. Die Eliten reagieren jetzt erst recht mit althergebrachten Rezepten darauf und probieren die ursprüngliche Situation, den Status vor der Krise, wieder herzustellen. Das ist auch verständlich. Es ist schwierig, sich hinzustellen und zu sagen: Das, was ich die letzten Jahrzehnte gelernt und gelehrt habe, die Weltanschauung, die ich hatte, ist falsch. Besonders wenn die Fähigkeit, Fehler einzugestehen und für Veränderung offen zu sein, nicht unbedingt sehr
ausgeprägt ist. Ein klares Problem der Eliten.
Dann sollen wir hoffen, dass uns die Krise richtig böse überrollt, damit wir von Neuem anfangen können?
Hm, wünschen kann man sich das nicht. Und selbst wenn sie sich vertieft: Der Problemdruck, der ein nachdenken fördert, tritt bei anderen auf, nicht bei jenen, deren Nachdenken eine Überwindung des neoliberalen Weltbildes ermöglichen könnte.
Das Haupthindernis einer raschen Überwindung der Krise
liegt also in den Köpfen der Experten?
Je stärker ihre Beharrungstendenzen Richtung bestehendem Meinungssystem sind, desto länger wird die Krise dauern, ja. Viele meiner Kollegen
sagen, ich bin ein Trottel auf Grund meiner Thesen. Es hat auch alles gegen das heliozentrische Weltbild gesprochen und wir haben trotzdem 200 Jahre gebraucht, bis wir es überwunden hatten.
Was muss passieren?
Wir brauchen einen „New Deal“ für Europa. Dessen Leitlinien sollen wieder zu realkapitalistischen Rahmenbedingungen mit sozialem und ökonomischen
Schwerpunkt führen.
Heißt?
Die Lenkung des Gewinnstrebens von kurzfristigspekulativen Transaktionen auf Finanzmärkten zu langfristig orientierten Aktivitäten auf Gütermärkten.
Etwa durch eine Steuer auf Finanztransaktionen?
Zum Beispiel, denn das schnelle Trading stellt ein Nullsummenspiel dar – es werden keine realen Werte geschaffen, sondern monetäre Werte umverteilt: Für einen einzelnen Spieler kann das Geld auf diese Weise viel mehr Gewinn bringen als bei realwirtschaftlicher Veranlagung, aber nur deshalb, weil andere verlieren. Es geht um eine generelle Schwächung der Interessen des Finanzkapitals und seiner Vertreter. Dazu bräuchte es aber eine Stärkung der
Politik und deren Durchsetzungsfähigkeit. Das ist wahr. Dem Prozess der Globalisierung der Unternehmen und Märkte gehört noch die Globalisierung
der Politik und dessen Stärkung beigemengt. Denn die Herausforderungen im ökologischen und sozialen Bereich sind sonst ebenfalls nicht zu lösen.
Danke für das Gespräch!