Gossip im Interview
Punk ist Selbstausdruck
‚Sellout‘ haben Fans der ersten Stunde geschrien, als bekannt wurde, dass Gossip für ihr aktuelles Album ‚A Joyful Noise‘ mit Brian Higgins – dem Britney-Spears-Produzenten und Boss der Hitfabrikanten ‚Xenomenia‘ – zusammenarbeiten. Frontfrau und Stilikone Beth Ditto lässt der Vorwurf kalt. Vor dem Konzert am 23. November im Wiener Gasometer erklärt sie VOLUME im Interview: ‚Es ist das Beste, was ich je gemacht habe!‘
Es heißt, ihr habt euch Brian Higgins geholt, weil ihr mit ihm an die Hits von ABBA anschließen wolltet…
Beth Ditto: Ganz so war’s nicht. Ich kannte ihn über einen gemeinsamen Freund, habe nur so zum Spaß ein paar Sachen mit ihm aufgenommen – ohne zu planen, wo das hinführt. Und als wir dann einen Produzenten für das Album suchten, schlug ich ihn vor. Nathan Howdeshell, unser Gitarrist, und Drummerin Hannah Blilie trafen Brian und verstanden sich sofort super mit ihm – also machten wir das Album mit ihm. Aber es stimmt, dass ich vor diesem Album sehr viel ABBA gehört habe.
Was gefällt dir an den Songs von ABBA?
Die Sorgfalt, die sie in die Produktion gesteckt haben. Sie haben sich die Mühe gemacht, jedes kleine Detail perfekt zu machen. Und das Resultat ist, dass es ein absolut zeitloser Sound ist. Wenn man sich zum Beispiel ‚Voulez Vous‘ anhört: Das ist 30 Jahre alt, aber es könnte gestern produziert worden sein. So einen Sound wollten wir auch für ‚A Joyful Noise‘. Früher haben wir Alben in zehn Tagen gemacht, auch „Music For Men“ ging so: Rein ins Studio, die Songs runterspielen, Druck geben, fertig. Diesmal wollten wir sie im Studio aufbauen und mit verschiedenen Schichten von Sounds unterlegen.
Einer der Gründe, warum eure Punk-Fans der ersten Stunde jetzt sagen, ihr hättet euch verkauft.
Warum? Wir haben uns keinen fremden Erwartungen angepasst, sondern folgen nur unseren eigenen Interessen. Deshalb passt ’sich verkauft‘ nicht ganz, wir sind sehr wohl immer noch Punk. Denn Punk, wie ich ihn definiere, ist Selbstausdruck. Ich dachte früher auch immer, als Punk musst du so und so sein. Aber eigentlich geht es darum, Regeln zu hinterfragen und zu brechen. Außerdem idealisieren viele Punks die Armut. Ich nicht, denn das ist Blödsinn. Ich will mein Leben nicht in Armut verbringen. Denn ich war arm – und es war gar nicht cool, jeden Tag Angst zu haben, ob meine Mum es schaffen wird, mich und sich zu versorgen. Wenn man es also „sich verkaufen“ nennen will, dass ich mich krisenfest und abgesichert fühle – fein, es ist das Beste, was ich je gemacht habe. Ich liebe es!
Warum sagst du dann aber, dass du für diese Kindheit in Armut dankbar bist?
Sonst wäre ich jetzt nicht, wie ich bin! Armut hat mich erfinderisch gemacht, hat mich gelehrt, selbstständig zu denken. Meine Großmutter hatte bis Mitte der 80er kein Bad, aber einen eigenen Garten, in dem sie das wunderbarste Gemüse angebaut hat. Sie stand in einem Kleid beim Holzstock und hackte sich Scheite zum Feuer machen. Sie hat mir beigebracht zu nähen. Wenn man schon so früh von kreativen Frauen umgeben ist, die aus dem wenigen, was wir hatten, so Großartiges machen, weiß man, dass man alles erreichen kann.
Dann hat dich deine Oma zur Mode gebracht?
Sie konnte so gut nähen! Schon als ich drei war, hat sie mir die Outfits zusammengestellt, die ich wollte. Später schneiderten wir all die coolen Sachen aus den Modemagazinen nach, weil wir arm waren und sie nicht kaufen konnten. Weil ich dick bin, dachte ich immer, wenn sie dieses Top oder diese Hose so und so abändern würden, wäre es auch für mich perfekt. Und weil es niemand machte, habe ich das dann selbst gemacht – zuerst mit der Oma und dann mit meiner Mum.
War das auch der Grund, dass du 2009 die Evans-Kollektion für große Größen entworfen hast?
Genau. Ich liebe Mode und fühle mich in der Modewelt meistens wohler als in der Musikszene. Denn die ist sehr maskulin und heteronormal. Aber in der Mode – die Welt ist nirgendwo exzentrischer und schwuler als in dieser Branche. Damit kann ich mich mehr identifizieren als mit Rockern, die ‚Baby‘ und ‚Chick‘ sagen. Wenn ich die Wahl habe, mit Karl Lagerfeld oder mit Kings Of Leon herumzuhängen, ziehe ich jederzeit Lagerfeld vor. Und ich liebe es einfach, mein Image zu wechseln. Schon wenn ich einen Song schreibe, sehe ich ein Image dafür, denke, dafür braucht es dicke Augenbrauen und ein pinkes Outfit. Mein Hirn funktioniert tatsächlich so. Um die Frage zu beantworten: Ja, mit der Evans-Kollektion wollte ich, dass sich Leute wie ich normal fühlen.
Wann hat das begonnen, dass du dich als ’nicht normal‘ gefühlt hast? War das schon als Kind so?
Ja, aber nicht weil ich dick war. Meine Mum hatte immer große Probleme mit ihrem Gewicht und hat sehr darunter gelitten. Deshalb habe ich mich sehr früh dafür entschieden, mir das nicht anzutun, sondern zu mir zu stehen. Das war sehr befreiend und von diesem Tag an war ich viel glücklicher. Die Schule war trotzdem ein Horror. Ich hatte zum Beispiel eine Geldbörse, die an einer Kette hing. Deshalb war ich gleich ein ’subversives Element‘. Ich wusste, dass ich da nicht reinpasse, wollte es auch gar nicht, und bin daher immer gehänselt worden.
Ein ’subversives Element‘? War dein Umfeld der Kleinstadt Searcy im tiefsten Bibelgürtel der USA tatsächlich so restriktiv?
Restriktiv ist vielleicht nicht das richtige Wort. Meine Mum war nicht streng, sie ließ mich fluchen und ich habe mit sechs geraucht. Aber wir waren wegen der Armut einfach isoliert vom Rest der Welt. Ich hatte kein Internet und kein Telefon. Und alle waren wegen der Religiosität konservativ, ignorant und voreingenommen – alle hatten immer Angst vor Gott.
Woher hattest du dann den Mut, dich in diesem Umfeld als Lesbe zu outen?
Ich hatte weniger Angst vor den anderen als vor mir selbst. Ich hatte Angst vor der Hölle. Das klingt jetzt witzig, aber damals war das sehr real. Denn in diesem christlichen Umfeld hörst du von Anfang an nur, dass dich der Teufel holt, wenn du so bist wie ich. Aber Punk war da die Quelle meines Selbstbewusstseins. Leute wie Nina Hagen oder die Band Bikini Kill und die ‚Riot Grrrl‘-Bewegung. Auch Yoko Ono – Leute die verrückt klangen, aber so viel mehr zu sagen hatten als andere. Keiner mochte die, aber für mich waren die unpopulärsten Sachen immer die coolsten.
Danke für die wahren und ehrlichen Schlussworte – bis bald in Wien.