Die Flucht nach vorne
Leoniden im Interview
Mit ihrem zweiten Langspieler beweisen die Leoniden eindrucksvoll, was möglich ist, wenn man alle angeblichen Grenzen und Gesetze hinter sich lässt und sich stattdessen nur auf die Leidenschaft für die Musik in all ihren Facetten konzentriert. „Again“ schäumt über vor Dringlichkeit und Euphorie. Es erzählt von Niedergeschlagenheit, Sehnsucht und Verzweiflung, aber vor allem von Liebe und großer, tiefer Freundschaft. Jakob, Lennart, JP, Djamin und Felix haben auf Platte nichts zurückgehalten – ähnlich wie in unserem Gespräch über Genreklassifizierungen, Kiel, kreativen Konsens und Michael Jackson.
Wie ist es euch mit dem angeblich immer etwas schwierigeren zweiten Album ergangen?
Super! Erstens macht Musik-Schreiben ja total viel Spaß. Man schafft was Neues, man kann Dinge ausprobieren, man bestimmt, womit man sich im Livekontext die nächsten 100 Konzerte beschäftigt. Zweitens haben wir fünf das große Glück, dass wir die Musik gemeinsam schreiben. Insofern sind wir überhaupt nicht in ein Kreativloch oder Ähnliches gefallen – ganz im Gegenteil. Wir haben direkt nach der ersten Tour im Frühjahr 2017 angefangen neue Songs zu schreiben. Da war das erste Album gerade mal sechs Wochen draußen. Sich einig zu werden, ist beim Schreiben der Songs immer viel, viel anspruchsvoller als die Ideenfindung. Da profitieren wir allerdings davon, dass wir uns so lange kennen, so gut miteinander befreundet sind und deshalb auch mal ordentlich miteinander streiten können. Beim Schreiben der Lieder überlassen wir nichts dem Zufall und fetzen uns um jedes Detail. Ein Lied ist erst fertig, wenn wirklich alle von uns happy sind. Das kann manchmal lange dauern, weil wir alle ziemliche Dickköpfe sind. Kurz gesagt: Es hat trotz der ganzen Zeit und der Kraft, die da so eingeflossen sind, riesigen Spaß gemacht und hat sich insgesamt nicht schwieriger angefühlt als bei der ersten Platte. Möglicherweise hat sich das Gerücht der zweiten Alben aber auch einfach überholt. Wir haben auch keine Angst vor einem dritten oder vierten Album und sind sehr stolz auf und glücklich mit „Again“.
Jeder von euch bringt Ideen ein, einige davon bleiben logischerweise auf der Strecke. Wie schwer oder leicht finden fünf kreative Köpfe einen Konsens?
Puh, das ist schwierig. Wie schon erwähnt: Das sind zum Teil fette Streits, zum Teil viel Diplomatie. Ein Song ist erst dann fertig, wenn alle richtig zufrieden sind. Niemand wird überstimmt, jeder hat unendliche viele Vetos. Ansonsten hilft es, den anderen zu vertrauen, wenn die anderen begeistert, überzeugt und zufrieden sind. Wenn man deren Meinungen ernst nimmt, fühlt man sich auch in der Opposition gut. Häufiger ergänzen sich unsere Meinungen aber auch einfach gut. Jeder Einzelne hat ja schließlich verschiedene „Fachgebiete“.
Ihr lasst auch auf „Again“ wieder Genregrenzen verschwimmen. Doch was antwortet ihr auf die leidige Frage nach eurer Musikrichtung? Braucht es 2018 überhaupt noch eine strikte Klassifizierung?
Der zweite Teil der Frage trifft es ganz gut: Wirklich interessant ist es doch häufig dann, wenn Grenzen überschritten werden. Für die Leute, die sich einen Anhaltspunkt wünschen, haben wir uns darauf geeinigt, zu sagen, wir machen Indie-Musik. Ein bisschen Rock, ein bisschen Pop, ein bisschen Funk, ein bisschen Soul, ein bisschen Hip-Hop, ein bisschen Prog, ein bisschen Grunge, ein bisschen hiervon, ein bisschen davon – ist alles mit drin. Die Liste ist nicht exklusiv. Wir tun uns aber auch selbst schwer mit Referenzen und versuchen da einfach bei uns zu bleiben. Am besten schaut man es sich einmal selbst an!
Rockmusik ist ja bekanntlich schon längst tot. Was sagen die Leoniden dazu?
Marshall-Boxen-Wände sieht man tatsächlich selten in letzter Zeit. Schade eigentlich, aber geil ist halt auch geil. (Gilt auch für Marshall-Boxen-Wände.) Und auch hier ist richtig: Musikrezipienten sind ja viel diverser als das Gerücht nahelegt.
Beim ersten Hören der Platte stolpert man gleich mal über die Jacko-Stimme. Wie wichtig war dieses eine Michael-Jackson-Konzert für die Leoniden und vielleicht auch für „Again“?
Michael Jackson 1996 in Kiel war für zwei Kinder (Lennart und Felix) bestimmt das größte und prägendste Konzerterlebnis, was man sich so vorstellen kann. Aber es war ja nicht nur das eine Konzert, wir sind bekennende Fans der allermeisten Michael Jackson Alben und Lennart kennt eigentlich jedes YouTube-Video von jedem Michael Jackson Konzert. Im Gegensatz zur ersten Platte waren wir diesmal wesentlich mutiger, um diese Facette bzw. diesen Einfluss auch ein bisschen mit einfließen zu lassen.
Vielseitigkeit ist auf eurem neuen Album Programm. Klingt simpel – wie schwierig ist es tatsächlich?
Dadurch, dass wir zu fünft schreiben und alle unterschiedliche Typen sind, unterschiedliche Stile mögen, unterschiedliche Musik hören, ist es nicht schwierig, Input zu finden. Dass es nach „uns“ klingt und sich für alle gut anfühlt, ist – wie gesagt – der schwierigere Teil. Wir sind einfach alle sehr musikinteressiert und deshalb auch offen für verrücktere Experimente. Dann wird gefeilt und gefeilt und gefeilt, bis wir es rund finden. Vielseitigkeit ist auf der anderen Seite aber ja auch ein bisschen eine Flucht nach vorne. Wir bedienen uns überall und versuchen dabei, uns möglichst wenig zu wiederholen. Sich innerhalb eines Genres – oder besser gesagt: mit immer denselben Zutaten – nicht zu wiederholen, ist vermutlich viel schwieriger.
Apropos schwierig: Wie schwierig ist es, von Kiel aus die Musikwelt zu erobern? Warum bleibt ihr der Stadt treu?
Kiel wird unterschätzt! In einem Sommer wie dem vergangenen ist Kiel ungefähr so wie Miami! Außerdem haben wir hier alle Freunde, Nebenjobs, „angefangene“ Unigeschichten. Zudem sind wir ja auch viel unterwegs und eigentlich jede Woche in anderen Städten. Es ist übrigens verhältnismäßig günstig, in Kiel zu wohnen und zu leben. Leute, wo gibt es bitte einen 80m2 großen Proberaum direkt am Strand, den man sich mit niemandem teilen muss und in dem rund um die Uhr, sieben Tage die Woche laut sein kann? Das Nervigste an Kiel ist die Lage. Dass man in Kassel logistisch besser dran ist, liegt ja auf der Hand. Wir brauchen irgendwie immer ewig, alles ist weit weg. Aber an das viele und lange Fahren kann man sich ganz gut gewöhnen.
Wenn wir euch in Kiel besuchen würden, was würdet ihr uns zeigen? Was würden wir unternehmen?
Kommt drauf an, wann ihr kämet. Wahrscheinlich wäre der Strand mit auf dem Programm. Abends gehen wir dann auf jeden Fall in die Schaubude oder zu einem Konzert in der Pumpe. Kommt doch mal vorbei!
„Fuck it all we killed it tonight/We stay awake“ – darf man die Zeile auch als Bandmotto verstehen?
Ein bisschen. Also nicht unbedingt als das Übermotto, das über allem steht, aber in „Kids“ geht es auch um die schlechten und müden Tage auf Tour. Die hat man ja manchmal. Man hat wenig gepennt, man hat Heimweh, man ist ein bisschen in einem Tunnel, es ist sehr anstrengend, aber am Ende eines Tourtages, nachdem das Konzert gespielt ist, hat man trotzdem das Gefühl, dass es genau das Richtige ist. Wir machen in allererster Linie Musik, um Konzerte zu spielen und die lohnen sich immer. Die entschädigen alles. Egal, wie doll man im Arsch ist. Es ist am Ende eigentlich immer eine riesige Party und dann ist auch wieder alles gut. Deshalb so ungefähr der Refrain „Fuck it all we killed it tonight/We stay awake“.
Lennart hat mal gesagt: „Wir sind wahnsinnig gut miteinander befreundet und erleben ein krasses Abenteuer, das uns flasht, aber manchmal auch überfordert.“ Was flasht am meisten? Was überfordert?
Es ist schon krass, wenn uns klar wird, dass so viele Leute freiwillig und gerne kommen, um einen Abend mit uns zu verbringen. „Krass“ in allen Spielarten. Anspruchsvoller ist es, das Leben drum herum zu organisieren. Man braucht schon starke Freundschaften und gute Beziehungen, um so viel Abwesenheit aufzufangen.
Ihr wart mit Franz Ferdinand auf Tour. Was waren die prägendsten Eindrücke und Erkenntnisse?
Für uns war schon sensationell, dass wir überhaupt von den Promotern und Franz Ferdinand selbst für den Support-Slot ausgesucht worden sind. In der Vergangenheit hatten wir uns schon damit abgefunden, eine Band zu sein, die einfach keine Vorband sein kann, weil wir genretechnisch nirgendwo so richtig gut dazu passen. Prägend war dann der erste Tag, an dem Djamin von der Tourmanagerin direkt an den Ohren zum Veranstalter gezogen wurde, weil er beim Franz Ferdinand Soundcheck eine Instagram-Story machen wollte. Großer Fehler! Wussten wir aber nicht. Damit haben sie dann einmal direkt dafür gesorgt, dass wir unsere Grenzen kennen und beim Rest der Shows waren alle super lieb zu uns.
Was darf bei keiner Leoniden-Liveshow fehlen?
Flo, Joni, Fritz und Djulien. Und Schweiß! Auf der einen Seite sind wir Perfektionisten, die nichts dem Zufall überlassen wollen – deshalb haben wir immer unsere Ton- und Licht-Menschen dabei. Fritz kümmert sich um die Bühne und Djulien macht das Merchandise. Auf der anderen Seite sind wir voll in Action bei der Liveshow und tanzen so doll, dass zum Beispiel ein Chiropraktiker Lennart vor einem Monat nur kopfschüttelnd gefragt hat, warum er tut, was er tut, ohne zu wissen, was er eigentlich tut.