Ilka und ihr Vater
Hitchhiker's Guide To Europe #74
So fuhren wir also nach Piran. Nach Süden. Ans Mittelmeer. An die Adria. An den Golf von Triest. Ich gab wieder den Kopiloten und genoss die Fahrt in vollen Zügen.
Ilka steuerte ihr Auto nach Süden. Der Alkohol in meinem Körper verflüchtigte sich auf Samtpfoten und machte ohne großes Federlesen Platz für das aufsteigende Licht, das mit jedem Kilometer, der uns näher dem schimmernden Riesensaphir brachte, die verborgenen, ja sogar die verbotenen Winkeln meines Gemüts erhellte. Die Fenster waren offen. Der Fahrtwind streichelte unsere Gesichter und spielte mit unseren Haaren.
Sie fragte mich, woher ich denn sei. „Austria.“ „I know a guy from Vorarlberg.“ „I grew up there.” „Oh, Funny coincidence. His name is Thomas, he is a good tennis player and very funny. Do you know him?” In Wien hätte man mich dasselbe gefragt. „No, i don’t know him.“ Ich machte mir nichts aus diesem „Zufall“, während ihr dieser offensichtlich großes Vergnügen bereitete. Sie schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ihre Augenbrauen wanderten noch etwas weiter nach oben und hinterließen einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck.
„NUN WAR ES OFFIZIELL, ICH HATTE ILKAS AHNUNG BESTÄTIGT. ALLE VORARLBERGER SIND LUSTIG.“
„You guys from Vorarlberg, you must be very funny?!“ Der Tommi aus Vorarlberg, der alte Tennisspieler, hatte sichtlich Eindruck hinterlassen. Jetzt war es wohl an mir, ebenfalls „funny“ zu sein. „Yes, all of them, especially me. But not all of them are good tennisplayers, especially me.” Sie lachte tatsächlich. Ich wusste nicht, ob das gut war. „That was easy“, rundete ich ab. Sie lachte noch einmal. Nun war es offiziell: Alle Vorarlberger sind lustig. Sie zündete sich zufrieden eine Zigarette an, während wir uns dem großen Wasser näherten.
Auf den Kilometern, die nun hinter uns lagen, hatte sich zwischen uns beiden eine Vertrautheit etabliert, deren Ursprung ich erahnen konnte und die ich sehr genoss. Sie erzählte mir, dass sie soeben ihren Vater in Ljubljana besucht hatte und dass ihr Verhältnis zu ihm nicht das beste sei. Sie schwieg eine Zeit lang. Er war schwerer Trinker und krank an der Leber. Als Ilka im Kindergarten war, spazierten sie oft Hand in Hand durch die Nachbarschaft des Plattenbaus. Ilka tapste dann ganz glücklich wie ein Zwerg neben ihrem Vater her. Ganz stolz war er auf seine aufgeweckte kleine Tochter. Egal welche Bar sie an den Nachmittagen besuchten, jeder war sofort von ihr angetan, sie war ein Sonnenschein und lachte viel. Sie hatte dieselben roten Haare wie ihr Vater. Man sah sie schon von Weitem: Wie eine sehr große und eine ganz kleine Stopptafel, die Hand in Hand im Flimmern der warmen Stadtluft näher zu kommen schienen.
Im Juni vor ihrem Eintritt in den Kindergarten verließ ihr Vater die Familie für den Alkohol. Ilkas Welt lag in Trümmern. Sie vermisste die lustigen Spaziergänge mit ihm. Sie vermisste ihren lieben Vater. Wo ist Papa? Sie verstand nicht. Ihre Mutter hatte keine Antworten auf ihre Fragen. Ilka beschloss zu schweigen und hörte auf zu essen. Es folgten ein Sommer und dann ein Herbst und dann noch ein Winter in stummer Finsternis. Ilka hatte sich selbst abgesperrt. Sie wurde von verschiedenen Ärzten in verschiedenen Spitälern behandelt. Ihr Elend war allumfassend. Sie war Gefangene ihres Schmerzes. Als der spärliche Kontakt mit ihrem Vater wieder seinen Anfang nahm, sperrte sich Ilka vorsichtig auf und es wurde wieder Frühling. Ich war sehr froh darüber. Wir würden sonst nicht gemeinsam ans Meer fahren.
RETO ALLEMANN WAR AUF DER REISE SEINES LEBENS. WIE EINE FLASCHENPOST LIESS ER SICH ALS ANHALTER VOM ZENTRUM EUROPAS AN DESSEN RÄNDER UND ZURÜCKTREIBEN, LERNTE ZWISCHEN STONEHENGE UND HAGIA SOPHIA SICH SELBST UND ANDERE KENNEN UND VERÖFFENTLICHT JETZT IM VOLUME SEIN REISETAGEBUCH.