Es ist Spätsommer 2015, als Clueso von seiner Deutschland-Tour nachhause kommt und spürt, es ist nichts mehr, wie es vor der Reise war. Er fühlt sich erschöpft und aufgewühlt zugleich. Wie ferngesteuert läuft er in den Proberaum und wirft die Reisetasche in die Ecke. Er nimmt seine Gitarre, spielt ein paar Akkorde und schreit das, was in ihm arbeitet, heraus: »Was soll ich tun, wenn ich´s so seh? Ich kann den Wind nicht ändern, nur die Segel drehen…Vor, zurück, zur Seite, ran – herzlich willkommen! Neuanfang.«
Als „Flucht in mein Element“ bezeichnet Clueso diesen Abend heute. »Nimm das. So wütend und hilflos klingst du nie wieder. Das ist eine Ansage!«, sagte sein späterer Produzent Tobias Kuhn, als er die Aufnahme am nächsten Morgen hörte.
Aus der Ansage wird ein Song, »Neuanfang« heißt er und ist der Titelsong des gleichnamigen Albums. Es ist bereits Cluesos siebtes Soloalbum, aber das erste, auf dem er sich mit all den Zweifeln, Ängsten und Abhängigkeiten beschäftigt, die seit dem Erscheinen seines ersten Albums vor 15 Jahren in ihm gewachsen sind.
»All die schönen Erinnerungen, ich halt sie hoch, heißt es weiter im Titelsong, Ich fühl mich einen Tag schwach, einen Tag wie neugeboren.«
Es sind keine kühlen Weisheiten, die er in den zehn Songs des neuen Albums verkündet. Vielmehr hinterfragt Clueso auf seine sensible, suchende Art sich selbst und die Gesetze der Musikszene, die ihn in den vergangenen Jahren so geprägt haben, wie er sie mitunter auch bestimmt hat – immer wieder darauf bedacht, seinen eigenen Weg zu gehen. So produzierte er seine Alben und Tourneen selbst und reiste zeitweise eigenfinanziert mit seinen Musikern und einer 70-köpfigen Crew, meist aus Freunden bestehend, durch Deutschland.
Sechs Soloalben, zwei EPs, drei Live-Alben, 25 Singles, fünf Mal Gold, zwei Mal Platin, über eine Million verkaufte Tonträger, Konzerte und Festivals mit bis zu 60.000 Besuchern beweisen die Treue und Zuneigung der Fans. Aber nicht nur sie können sich mit Clueso identifizieren. Auftritte mit Lindenberg, Grönemeyer, Niedecken und den Fantastischen Vier – man kommt nicht umher die 15 Jahre seit Erscheinen von Cluesos erster Platte »Text & Ton« als ungemein erfolgreiche Zeit zu beschreiben.
Im Moment des größten Erfolgs spürt er, irgendwas stimmt in seinem Leben nicht. Was genau das ist, das kann er lange nicht definieren. Clueso ist ein Mensch, der gerne Vertraute an seinem Erfolg teilhaben lässt. Seine Kreativität als Künstler schöpft er jedoch vor allem aus Momenten des Rückzugs und der Konzentration auf sich, seine Gitarre und seine Gefühle.
„Der Countdown läuft, alles bebt und dann hebt er ab. Wolken ziehen vorbei, während er weiter emporsteigt. Er schaut nach unten aus dem Fenster… fühlt sich allein und so schwach. Kurz vor der Ohnmacht. Und dann schwerelos“, lauten die Zeilen eines weiteren Songs der neuen Platte. »Gordo« heißt er und erzählt die Geschichte eines Äffchens, das Ende der 1950-ger Jahre von der NASA in den Weltraum geschossen wurde und sich dabei vor dem Moment der Schwerelosigkeit fürchtet. »Ich habe alle Knöpfe gedrückt, alles gemacht, was ihr sagt. Wann ist es vorbei? Kann ich zurück? Kann ich zurück?«
Der Preis der Berühmtheit, das ist das Kernthema des neuen Albums von Clueso. Wer führt eigentlich noch Regie über mein Leben? Das fragt er sich. Er, der Künstler, oder sein Umfeld? Als Gordo das Äffchen, ins All geschickt wurde, sagt Clueso, habe man auch gedacht, er würde die Schwerelosigkeit gut finden, »aber er wollte einfach nur wieder runter.« Clueso wollte auch einfach nur runter. Während der vergangenen Tour wuchs eine tiefe Sehnsucht in ihm, sich vor 50.000 Menschen auf die Bühne zu legen und einfach zu schlafen.
»Ich musste feststellen«, sagt Clueso heute, »dass mich all die Verpflichtungen und Versprechungen gegenüber meinem Umfeld in meiner künstlerischen Freiheit einschränkten.« Die Frage war bloß: Wie befreit man sich aus einer Symbiose, ohne mit der Vergangenheit zu brechen? Die Menschen lieben Verrat, aber keine Verräter. Aber mindestens genauso wichtig wie die Reaktion der Öffentlichkeit war Clueso, selbst mit der Entscheidung zurecht zu kommen, sie als richtig zu empfinden. Er habe eigentlich »kein neues Leben, nur einen neuen Tag« gewollt, singt Clueso auf seinem neuen Album, und doch musste er erkennen, dass er einen klaren Schnitt machen musste, einen »Neuanfang«, um sich zu befreien.
Kurz vor Ende der vergangenen Tour trennte er sich von seiner Band und in den Tagen, als er »Neuanfang« im Studio aus sich herausschrie, auch von seinem Manager. Er zog aus der Wohngemeinschaft aus und verließ den Zughafen, das von ihm mitgegründete unabhängige Netzwerk für Kulturschaffende im Zentrum seiner Heimatstadt Erfurt.
In dieser Zeit lernte er den Produzenten Tobias Kuhn kennen. Weil die Angst sich mit jemand Fremden zu binden erst mal groß ist, unternehmen die beiden gemeinsam mit Tim Neuhaus, dem Schlagzeuger aus Cluesos ehemaliger Band, eine Reise in die Alpen. Sie nehmen an einem fünftägigen Seminar teil, in dem sie sich Erwartungen und Sehnsüchten an sich selbst und sein Umfeld auseinandersetzen müssen. »Ich habe gemerkt, dass dies genau das ist, was ich gerade durchlebe: Das Auseinandersetzen mit Erwartungen und die Sehnsucht danach autonome Beziehungen zu anderen Menschen zu führen und Dinge auszuprobieren, weil ich es selber will und nicht, weil jemand anders mir dazu rät.« Am Ende dieser Reise fühlen sie sich bereit für einen gemeinsamen Neuanfang.
Es wird aus dem Vollen geschöpft. Neuanfang rumpelt, atmet und lebt an allen Ecken. Von jetzt an ist die Richtung klar. Alle machen Stadionrock und liefern die große Show? Clueso will auch vorne stattfinden – aber bitteschön mit einem Sound, der etwas schmutzig und spontan ist! Das Album ist teilweise auch eine Rückkehr
zu seinen HipHop-Wurzeln. Soul hatte Clueso schon immer. Das alles spürt man jetzt noch mehr: Gospel, Chor und Bläser – ein Album wie eine 7inch-Jukebox.
Meist schreibt Clueso die Texte im Studio, während Tobias Kuhn an den Produktionen arbeitet. »Ich hatte die Musik noch nicht oft gehört und den Kopf deshalb so frei, dass die Emotionen noch in der Stirn flackern und flimmern konnten. Das war wie zu Hip-Hop Zeiten, als der DJ einen Beat gebaut hat und ich parallel dazu meinen Text geschrieben habe.« Vielleicht erinnert das Album auch deshalb stellenweise an »Text & Ton«, Cluesos Debütalbum aus dem Jahr 2001. »Ich glaube, ich habe mir viele Leute erspielt, weil die Musik damals so eine Urkraft hatte, die im Laufe der Zeit durch Perfektion und Wissen etwas verloren gegangen ist.« Es ist genau diese anfängliche Urkraft, die man den Songs des neuen Albums anhört.
In jeder Zeile, in jedem Ton steckt die Unsicherheit des vergangenen Jahres, aber eben auch eine euphorische Aufbruchsstimmung. Es ist ein Sound, der kein neues Leben, sondern nur einen neuen Tag will und ihn mit seiner unbändigen Kraft und Stärke auch bekommt – denn dafür ist es nie zu spät. Der rotzige Song »Achterbahn« windet sich geschickt an allen Erwartungen vorbei, die seit jeher von allen Seiten an Clueso herangetragen worden sind, während »Lass sie reden« ein Schulterzucken und entspanntes Pamphlet für die »Da rein, da raus«-Mentalität wiedergibt, die es manchmal eben braucht.
In »Anderssein« wird eine schwere Botschaft mit Zeilen wie »Alle wollen am Leben sein oder am Meer« übermittelt, ohne den Hörer zu erdrücken. Es ist ein Partysong, der aber keine Party feiert, sondern vielmehr die fragwürdigen Bilder einer Spaßgesellschaft ohne großes Interesse an der Umwelt erzählt. »Bei den Montagsdemos und dem derzeitigen Rechtsruck werden zwischenmenschliche Beziehungen in Zukunft eine viel größere Rolle spielen und dessen sollten wir uns alle bewusst sein.«
Clueso sagt, er wünschte sich, dass alle ordentlich durchgeschüttelt werden, aber der Fan nicht aus der Kurve fliegt beim Zuhören. Die Message sei wichtiger als die Poesie. Er selbst befindet sich noch auf einer Fahrt, das spürt man, wenn man die neue Platte aufmerksam gehört hat. Er erzählt von Unabhängigkeit und Reife, vom Zurück- und Vorausschauen, vom Hinfallen und Aufstehen, vom Loslassen und Umarmen, vom Weitermachen und Neuanfängen. »Für mich ist es ein wichtiges Album«, sagt Clueso, »weil ich mich hinterfrage, ohne mich zu verlieren.«