Formel 1-Backstage: Im historischen Bauchnabel des Rennsports
Michael Schumacher hat aufgegeben. Sir Peter Tutthill aber nicht. Er ist euch allen bekannt. Als Cameo-Polizist im Hintergrund vieler Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen. Was ihn im richtigen Leben auszeichnet: Er ist der akribischste Chronologe der englischen Formel 1-Geschichte und hat in den letzten 60 Jahren mit allen Rennfahrern gesoffen, die man sich vorstellen kann. VOLUME hat sich einen 64er Austin Healey geschnappt und den 80jährigen in Cornwall besucht.
Wenn Peter Tutthill bei Tee und Kuchen über die Fünfziger Jahre der Formel 1 erzählt, entsteht das berühmte Kino im Kopf. Tutthill, knapp achtzig und britischer Gentlemen der alten Schule, war Motorsport-Journalist aus Leidenschaft und wohl einer der akribischsten Chronisten der F1-Historie. Er kann von Zeiten berichten, in denen Rennfahrer vor dem Start das eine oder andere Bier gekippt und beim Boxenstopp eine Tschick genossen haben. Er ist nicht der englische Heinz Prüller – Er war wirklich dabei, als alles begann.
Es ist ein nasskalter Abend in der Grafschaft Cornwall, ich sitze in Tutthills Wohnzimmer in Wadebridge, das Holz im offenen Kamin knistert, die Gattin und Landlady kredenzt heißen Tee mit Milch. Tutthill berichtet: Von gemeinsamen feucht-fröhlichen Abenden mit Kapazundern wie Juan-Manuel Fangio oder Sir Stirling Moss, auch von dem 2001 verstorbenen Ken Tyrrell, dem Gründer des gleichnamigen F1-Teams, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Schumacher hält er für perfekt, nippt dabei aber an der Tasse und hebt die britische Augenbraue. Ich schmelze, hab den Mund weit offen und bin unwürdig.
Der eigentliche Grund meines Besuches liegt allerdings 17 Kilometer nordöstlich seines Hauses – die ehemalige Royal-Airforce-Basis Davidstow nahe des Örtchens Camelford, 1942 erbaut, war als Luftwaffenstützpunkt bis zum Kriegsende 1945 in Betrieb und wurde danach kurzerhand zur Rennstrecke umfunktioniert. 1954 und 1955 fanden in Davidstow sogar drei Formel 1-Rennen statt, die man getrost als Mutterkuchen der Formel 1 bezeichnen darf. Ich wollte wissen, wo und wann genau die Formel 1 begann, bevor sie zu dem wurde, was sie heute ist. Wahrscheinlich ist es genau dort passiert.
Eines dieser damaligen Rennen ging als der erste Sieg eines Lotus-Rennwagens in die Motorsport-Geschichte ein. Gleich beim Auftaktrennen 1954 kam es zu einem folgenschweren Malheur des englischen Herrenfahrers Horace Gould, wie Gastgeber Tutthill schmunzelnd erzählt: Gould hatte mit seinem Renntransporter (einem umgebauten Doppeldecker-Bus, den er billig in London erstand) kurzerhand eine Fußgänger-Brücke, die über die Strecke führte, umgefahren, die Veranstaltung musste vorzeitig abgesagt werden.
Der nächste Morgen, ich bin auf dem Weg nach Davidstow. Stilecht in einem 1964er Austin Healey 3000 – ein modernes Auto wäre ein fürchterlicher Anachronismus in dieser historischen Umgebung. Es ist kalt, aber nicht so kalt, wie man es von einem englischen Regenmorgen erwarten würde. Plusgrade, der Healey wird deshalb offen gefahren. Und fühlt sich herrlich gut an. Keine Außenspiegel nerven die Sicht, bloß ein hübsch platzierter, völlig unterdimensionierter Rückspiegel, der angesichts des unrunden Grummelns des Sechszylinder-Motors ein zittrig-verzerrtes Bild des eigenen, blöd grinsenden Gesichts widergibt. Gut so.
Austin Healey-Fahren ist ohnehin so eine Sache: Der Autor dieser Zeilen hat schon viele schöne kräftige, ältere und wichtige Automobile bewegt, aber der Publikums-Faktor (Schauen, staunen, winken), den der Healey daheim auf der Insel erzeugt – der ist lässig. Bei der Fahrt durch Hauptstraßen kleiner Orte schaltet man einen Gang runter, winkt und vermutet, dass sich die Kinder (und deren höchst nett geschmückte Mütter) allein deswegen am Straßenrand säumen und Union-Jack-Fahnen wedeln, weil endlich wieder mal was passiert in der cornischen Einöde.
Der aufgelassene Flugplatz von Davidstow befindet sich in ebendieser absoluten Einöde, Menschen sieht man an diesem Tag auf dem riesigen Areal weit und breit nicht. Die einzig wahrnehmbaren Geräusche stammen von blökenden Schafen, die auf den Wiesen grasen, dem Wind, den der Atlantik recht vehement über das schönste Stück Englands bläst, und dem irr lauten Röhren des Sechszylinder-Healey’s. Ein Sound, den weder alte V8-Amis noch junge europäische Turbos hinbekommen. Gänsehaut, wenn man mit diesem Auto allein stehen bleibt in der cornischen Pampa, aussteigt, es ansieht und daran riecht. Wenn es nach Öl, Trommelbremsen, abgenutzem Leder und Holz riecht.
Es regnet wie meistens in dieser Gegend, was auch ein Grund ist, warum dort seit Jahrzehnten keine Autorennen mehr stattfinden: In den tiefen Furchen und Löchern, die die schweren Weltkriegs-Bomber auf der Startbahn hinterließen, steht das Wasser nämlich knietief. Im alten Radar-Turm treffe ich dann doch auf Menschen: Drei britische Soldaten haben in einem Raum ihr Zelt aufgebaut und bereiten sich auf eine Übung vor. Ich bekomme von ihnen – streng nach Klischee – eine Tasse Tee vom Gaskocher und spazier damit über die ehemalige Start/Ziel-Gerade. Ein traurig-schönes Gefühl, wenn man daran denkt, wie hier vor 53 Jahren Ken Tyrrell vor Tausenden Zuschauern den Streckenrekord aufstellte. Ein halbe Stunde hab ich noch, meinen die Soldaten freundlich. Dann begänne nämlich ihre Übung und ich wäre dabei fehl am Platz, wenn sie vom Wäldchen südlich des Areals von den Kollegen angegriffen würden.
Der Heckantrieb meines Healey’s und ich legen noch drei schöne Ringerl (s. Foto rechts) ins nasse Gras und verziehen uns gen Atlantikküste.
Peter Tutthill fährt übrigens heute einen knallgelben VW New Beetle.