Vorstadtneurotiker
Arcade Fire im Interview
Alternativorchester. Idole von David Bowie und U2-Stimme Bono. Nachfahren von Win Butlers erster Band Willy Wanker And The Chocolate Factory. All das waren Arcade Fire, bis sie voriges Jahr das dritte Album ‚The Suburbs‘ veröffentlicht hab en. Das Epos über Vorstadttristesse bekam den Grammy in der Kategorie ‚Album des Jahres‘ und katapultierte die sieben Vielinstrumentalisten vom Status der Kulthelden der alternativen Szene in die Liga der Arenafüllenden Rockstars. Am 22. Juni kommt die kanadische Bandfamilie ins Festivalzelt nach Wiesen. Vorab erzählen Bandboss Win Butler und Richard Parry, warum sie Vorstädte für Brutstätten von Kriegen halten und was der zeitgenössische Komponist Arvo Pärt mit The Clash gemeinsam hat.
Wie kam es zu dem Konzept von ‚The Suburbs‘?
Richard Parry: Es ist kein Konzeptalbum in dem Sinn, dass es eine durchgehende Erzählung hat. Es gab sogar einmal den Plan, es ganz schnell zu machen, ein wildes, raues Rock’n’Roll-Album im Stil von Neil Young. Aber natürlich geht das bei Arcade Fire nicht. Denn da ist immer jemand, der noch etwas ändern will, einer, der irgendwo ein kleines Detail hinzufügen möchte. Aber das ist auch der Grund, warum wir so einen einzigartigen Sound haben. Selbst wenn wir vorhaben, etwas Minimalistisches zu machen, wird es nicht minimalistisch.
Win Butler: Meine Frau Regine und ich waren im Sommer 2009 in Houston. Ich habe ihr den Vorort gezeigt, in dem ich aufgewachsen bin. Deshalb wollte ich dann eine Platte darüber machen, wie ich mich damals gefühlt habe. Regine und ich sprechen oft darüber, dass es interessant ist, im Rock Themen zu erforschen, die nicht so populär sind. Zum Beispiel die Frage, wie Eltern, die Familiensituation und auch die Nachbarn, also Beziehungen, die du dir nicht aussuchst, dein Leben und deine Persönlichkeit prägen. Einer der lyrisch interessantesten Songs ist meiner Meinung nach John Lennons ‚Mother‘.
In vielen eurer Songs gibt es soziale Kommentare. Sogar über Kriege, die in den Vorstädten ihren Ursprung haben, ist die Rede. Wie kommt ihr darauf?
Richard Parry: Ich halte Vorstädte für schrecklich langweilig, aber sie sind eine wunderbare Metapher für unsere heutigen sozialen Strukturen. Und ein paradoxes Phänomen: Wir ziehen dahin, weil wir uns dort ein besseres Leben als im Zentrum einer Stadt erwarten. Aber die Häuser sind aus Kostengründen schlecht gebaut. Sie scharen sich um künstlich angelegte Teiche, die stinken, weil sie verrotten. Das einzige Kulturangebot ist ein Kino und das soziale Zentrum ein Einkaufszentrum mit Burgerbuden. Alles so steril und frei von Inspiration, dass es jedes Leben erstickt. Deshalb sind Vorstädte fast immer und überall soziale Brennpunkte.
Wo siehst du den Konnex zu unseren sozialen Strukturen?
Richard Parry: Einige der Songs werfen Fragen darüber auf, wie es zu unseren sozialen Strukturen kommen konnte, wenn der Ausgangspunkt immer der Traum von einem besseren Leben war? Wieso bringt uns dieser Traum nicht weiter? Oder auch: Warum stehen wir, wo wir stehen, obwohl wir als Menschheit schon so lange auf der Erde leben, dabei so viele schwere Fehler gemacht haben, aus denen wir längst hätten lernen können?
Win, als du von Houston nach Montreal gezogen bist, hast du Regine getroffen und mit ihr Arcade Fire gegründet. Seid ihr als kreatives Paar unterschiedlich und komplementär oder auf der gleichen Wellenlänge?
Win Butler: Als ich Regine kennengelernt habe, sind wir sehr schnell zusammengekommen – sowohl als Paar als auch als Songwriter. Wir haben einen total unterschiedlichen musikalischen Background. Aber das ist genau das, was es für mich so interessant macht. Regine bringt einen Sinn für Harmonielehre und Melodie ein. Sie kommt aus dem Jazz und der Klassik, liebt Arvo Pärt und interessiert sich auch für Kompositionstechniken aus anderen Ländern und anderen Zeitepochen. Sie hat zum Beispiel mein Interesse an Jacques Brel geweckt. Mir dagegen liegen eher The Clash und The Pixies im Blut. Das ist die Energie, die ich suche. Und irgendwo zwischen The Clash und Arvo Pärt liegt ein spannender Sound, den wir erforschen.
Du hast neben Fotografie auch ‚Creative Writing‘ studiert. Wie hat das deine Art Texte zu schreiben beeinflusst?
Win Butler: Ich habe dabei viel über das Handwerk gelernt. Viele der Songwriter, die ich bewundere, machen das genauso: Sie haben sich ihr eigenes Universum geschaffen. Zum Beispiel Bruce Springsteen mit Autos, Autobahnen und einem Roadmovie-Feeling. Oder Bob Dylan mit der Zirkussymbolik, Narren, Königen und Königinnen. Ich finde, das hilft, Typen und Charaktere zu kreieren, mit denen man ein breites Spektrum an Themen erforschen kann und unterschiedliche persönliche Ideen zu einem Ganzen zusammenbringt. Und es regt die Vorstellungskraft der Hörer an. Deshalb mag ich es nicht, meine Songs in der Öffentlichkeit zu analysieren und zu erklären. Die Leute haben ihre eigenen Bilder dazu und ich will ihnen nicht sagen: ‚Damit liegst du aber falsch!‘
Du bist überhaupt bekannt dafür, die Öffentlichkeit zu meiden. Was stört dich daran?
Win Butler: Dieser Öffentlichkeitsaspekt ist wirklich das Irritierendste an unserem Erfolg. Alle glauben, dich zu kennen. Ständig wirst du mit Meinungen und Beschwerden über deine Arbeit konfrontiert. Wenn du in einem Büro arbeitest, sagt dir auch nicht ständig jemand, wie gut oder schlecht du etwas machst. Und du musst weder dich noch deine Arbeit permanent analysieren. Das ist überhaupt das Schwierigste, denn dadurch ist man sehr auf sich selbst fokussiert – das halte ich aber in vielerlei Hinsicht für den größten Feind der Musik und der frei fließenden Kreativität.
Aber in einem Büro würdest du doch sicher nicht arbeiten wollen?
Win Butler: Als wir anfingen und kaum Geld hatten, bin ich ganz gut damit zurecht gekommen. Ich konnte mir damals auch vorstellen, Englisch oder Literatur zu unterrichten, um mir meinen Unterhalt damit zu verdienen und Musik nur nebenbei zu machen.
Da können wir froh sein, dass für Arcade Fire doch alles anders gekommen ist. Wir freuen uns den nächsten Konzertauftrag in Österreich am 22. Juni in Wiesen.