Zimmer 483 - Tokio Hotel
Tokio Hotel
Zimmer 483

Der Merchandising-Katalog von Tokio Hotel liest sich beeindruckend: von der Wanduhr bis hin zur Bettwäsche lässt sich alles finden. Hunderte Artikel ermöglichen dem geneigten Fan, seine kaum älteren Helden immer um sich zu haben. Hinter diesen Auswüchsen einer Wertschöpfungskette, deren Volumen mittlerweile leicht dem Bruttoinlandsprodukt so manch nordafrikanischen Kleinstaats entspricht, steht auch beim zweiten Album ‚Zimmer 483‘ ein perfektes Wechselspiel zwischen der jungen Band, ihren Produzenten und einer gut aufgestellten Plattenfirma. Wer hinter Tokio Hotel ein Ansammlung von Marionetten vermutet, der irrt: Nein, sie wurden nicht gecastet; auch das vom japanischen Visual Kei inspirierte Styling des Sängers Bill wurde dem armen Bub nicht von gewinngeilen Managern oktroyiert. Betrachtet man ein Interview mit den Magdeburgern, erkennt man schnell, dass sie sich in ihrer Rolle wohlfühlen und nicht nur auf die vorbereiteten Sätze ihres Redenschreibers zurückgreifen. Natürlich komponiert ein vierköpfiges Produzententeam das Gros der Songs, aber im Gegensatz zu dem Gutteil anderer Popsternchen stehen Tokio Hotel hinter ihrer Rolle und füllen sie optimal aus. Hier steckt nicht nur optimales Marketing hinter dem Erfolg dieser Kids, sondern schlichtweg ein perfektes Pop-Produkt, das durch die vier Jugendlichen an Authentizität gewinnt. So sind die Texte des neuen Albums wie zuvor geprägt von Adoleszentenromantik. Zentrale Themen wie Liebe, Tod und Ängste der Jugendlichen werden optimal verbalisiert; Sänger Bill findet die adäquaten Worte für die Gefühlswelten seiner Altersgenossen. Musikalisch bewegt man sich auch auf ‚Zimmer 483‘ in einem tontechnisch geglätteten Graubereich zwischen HIM und Metallica – ein derart druckvolles Soundgewand hätte gar ‚St. Anger‘ wirklich gut getan. Gesungen wird dabei konsequent mit einem Timbre à la Nena. Oft kratzt das Material hart an der Grenze zur Beliebigkeit, aber wenn man sich der ansich schon unsinnigen Position, ein Produkt für Sechzehnjährige aufgrund seiner Beschaffenheit als lachhaft zu empfinden, entzieht, dann erkennt man eine CD, die sich so mancher in früheren Jahren wohl auch gekauft hätte. Fazit: Marktsegmentiererpop der Sonderklasse. (eru)

— Nobody